Prof. Dr. med. Rolf Zander
Mail: cr-zander@widersprueche.eu
Web: www.widersprueche.eu
Zentralrat der Juden in Deutschland
Herrn Dr. Josef Schuster
Leo-Baeck-Haus
Postfach 04 02 07
10061 Berlin
17. Dezember 2019 / keine Antwort erhalten
Antisemitismus versus Israel-Kritik
Sehr geehrter Herr Schuster,
ich werde einen Offenen Brief an den Zentralrat der Juden in Deutschland unter www.widersprueche.eu publizieren und erlaube mir, Sie als Präsidenten zu kontaktieren.
Gestatten Sie, dass ich vier Zitate voranstelle:
- Dr. Schuster: Wieso konnte sich der Begriff ... der „Israel-Kritik“ einbürgern? [1].
- Scharf hat der Zentralrat der Juden 2002 die Behauptung des CDU-Politikers Norbert Blüm zurückgewiesen, in Deutschland werde der Antisemitismus-Vorwurf teilweise als „Knüppel“ gegen Israel-Kritiker eingesetzt. Zentralrats-Präsident Paul Spiegel nannte Blüms Äußerungen ungeheuerlich [2].
- Jürgen Todenhöfer 2019: Hört auf, jede Kritik an Israel als antisemitisch zu bezeichnen! Das wird immer absurder [3].
- Der Talmudspruch „Alle Juden sind füreinander verantwortlich“ gilt dem Jüdischen Weltkongress (WJC) bis heute als Leitbild [4].
Sehr geehrter Herr Schuster,
Wenn der Talmudspruch „Alle Juden sind füreinander verantwortlich“ auch für den Zentralrat der Juden in Deutschland gilt, dann wäre es höchste Zeit, dass Sie sich der UNO, der EU und der deutschen Regierung anschließen, den israelischen Siedlungsbau öffentlich zu kritisieren. Differenzieren Sie – unbedingt – zwischen Antisemitismus und Kritik an Israel.
Sehr geehrter Herr Schuster,
Sie wenden sich gegen den Begriff „Israel-Kritik“, es ist aber offensichtlich, dass der Vorwurf, jede Kritik an der Politik Israels werde als Antisemitismus ausgelegt, seit Jahrzehnten – 2002 bis 2019 – im Raum steht.
Der Zeitpunkt für diesen Brief ist denkbar günstig: Es besteht auch nicht der geringste Zweifel, dass die Bundeskanzlerin Dr. Merkel bei ihrem aktuellen Auschwitz-Besuch die richtigen Worte findet – und von ihren Gefühlen überwältigt wird [5]. Dem vorausgegangen ist, dass sie die historische Verantwortung und die Sicherheit Israels zu einem Teil der deutschen Staatsräson erklärt hat [6].
Vom Antisemitismus zur Israelkritik
Zitate aus einem Leserbrief [7]:
Ich lebe seit 43 Jahren in Deutschland und habe persönlich nie Antisemitismus erfahren.
Als mein Mann und ich vor mehr als zehn Jahren im Auswärtigen Amt Gespräche führten, wurden wir mit dem Satz empfangen, man mache sich große Sorgen um wachsenden Antisemitismus, und zwar ausgehend von israelischer Politik. Unsere Antwort lautete: Sorgen Sie dafür, dass die Bundesregierung auch für die Rechte der Palästinenser eintritt. Mittlerweile ist es so weit gekommen, dass jede Kritik an der israelischen Politik in den Verdacht des Antisemitismus gerät. Damit wird der tatsächliche Antisemitismus verharmlost ..., wenn Juden, Muslime und Geflüchtete auf offener Straße angegriffen werden.
Die Lehre aus der Geschichte kann doch nicht sein, dass Auschwitz als Freibrief für Menschenrechtsverletzungen herhalten soll, weder in Deutschland noch in Israel.
Judith Bernstein, München.
Israelkritik ist Antisemitismus?
Wenn – seit 2002 (Blüm) bis 2019 (Todenhöfer) [2, 3] – jede Kritik an der Politik Israels als Antisemitismus ausgelegt wird, dann war mein Brief an den Herrn Bundespräsidenten Steinmeier berechtigt [8], der den „neuen Antisemitismus“ gerade verurteilt hatte: „Die Ausschreitungen sind nicht nur inakzeptabel, sie sind unerträglich. Es darf in Deutschland kein Platz sein für alten Antisemitismus und auch nicht für neuen“ [9]. Leider wurde meine Bitte, unseren Mitbürgern zur Differenzierung zwischen Antisemitismus und Israel-Kritik eine Klarstellung zu übermitteln, nicht beantwortet.
Zur Siedlungspolitik Israels
- 2016 übt die Bundesregierung – unter Frau Merkel – ungewöhnlich deutliche Kritik an Israels Regierung. Zuvor hat die israelische Militärverwaltung für die besetzten palästinensischen Gebiete den Beschluss bestätigt, 234 Hektar Land südlich der Stadt Jericho im Westjordanland in Staatsland umzuwandeln [10]. Außenminister war damals Frank-Walter Steinmeier.
- 2017 hat das Europäische Parlament Israel für seine Siedlungen in den Palästinensischen Gebieten scharf verurteilt. Die Politik müsse sofort gestoppt und rückgängig gemacht werden, forderte eine Mehrheit der Abgeordneten in Straßburg. Die Siedlungen seien "gemäß dem Völkerrecht illegal", heißt es in der Erklärung.
Der kürzlich gefasste Beschluss Israels, eine neue Siedlung tief im Westjordanland zu gründen und dafür Ausschreibungen für nahezu 2.000 Wohneinheiten zu veröffentlichen, verschlechtere die "Aussichten auf eine tragfähige Zweistaatenlösung", heißt es in dem Beschluss weiter. Dies gelte auch für das Anfang Februar von der Knesset verabschiedete sogenannte Regulierungsgesetz. Es ermöglicht die nachträgliche Legalisierung von Siedlungen, die auf palästinensischem Land errichtet wurden – ohne Zustimmung der rechtmäßigen Privateigentümer [11]. - 2018 wird gemeldet: Der israelische Siedlungsbau ist das größte Hindernis für eine Zweistaatenlösung – und gleichzeitig eine strategische Sackgasse für Israel [12].
- 2019 kritisiert die deutsche Regierung den Ausbau von Siedlungen im Westjordanland. Die Regierung betrachte „den Siedlungsbau in den palästinensischen Gebieten als völkerrechtswidrig und ein Haupthindernis für die Möglichkeit einer zwischen Israel und den Palästinensern zu verhandelnden Zwei-Staaten-Lösung.
Sie ruft dazu auf, alle Schritte zu unterlassen, die eine Zwei-Staaten-Lösung weiter erschweren“, hieß es in einer Stellungnahme. Die oberste Planungsbehörde Israels hat den Bau weiterer 2300 Wohnungen gebilligt. Seit Jahresbeginn wurden für 8.337 Wohnungen in Siedlungen Genehmigungen erteilt. Das ist ein starker Anstieg: Im gesamten Vorjahr waren es 5.618 Wohnungen [13]. - 2019 berichtet die Tagesschau:
Die US-Regierung sieht im israelischen Siedlungsbau im Westjordanland keinen Verstoß gegen internationales Recht mehr.
Der Bau von israelischen Siedlungen im Westjordanland sei "nicht per se unvereinbar mit internationalem Recht", sagte US-Außenminister Mike Pompeo. Es habe den Friedensprozess im Nahen Osten nicht vorangebracht, die Siedlungen für illegal zu erklären. Israel begrüßte die Entscheidung umgehend. "Es gibt keinen Zweifel am Recht des israelischen Volkes am Land Israel", sagte Außenminister Israel Katz laut einer Mitteilung seines Ministeriums [14]. - 2019 berichtet der Tagespiegel:
EU distanziert sich von Kehrtwende der USA in Nahostpolitik.
Die US-Regierung betrachtet den israelischen Siedlungsbau im Westjordanland nicht mehr kategorisch als völkerrechtswidrig. Die EU sieht das weiterhin anders.
Nach dem Kurswechsel der US-Regierung zum israelischen Siedlungsbau im Westjordanland will sich die EU der neuen Politik Washingtons nicht anschließen. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini machte am Montagabend in Brüssel deutlich, dass die EU den israelischen Siedlungsbau in den besetzten Palästinensergebieten weiterhin als völkerrechtswidrig einstuft.
Israel hatte 1967 während des Sechstagekriegs unter anderem das Westjordanland und Ost-Jerusalem erobert. Dort leben heute mehr als 600.000 israelische Siedler in mehr als 200 Siedlungen. Die Palästinenser wollen auf dem Gebiet einen unabhängigen Staat gründen.
Mogherini unterstrich das Festhalten der EU an ihrer bisherigen Politik. „Die Position der Europäischen Union zur israelischen Siedlungspolitik in den besetzten Palästinensergebieten ist klar und bleibt unverändert: Alle Siedlungsaktivitäten sind nach dem Völkerrecht illegal und unterhöhlen die Tragfähigkeit der Zwei-Staaten-Lösung und die Perspektiven für einen dauerhaften Frieden“ [15].
Alles versteckte antisemitische Äußerungen?
- 2019 zählt für den amerikanischen Präsidenten Donald Trump das Völkerrecht nicht. Er richtet seine Nahost-Politik in Manier eines Rambos neu aus – nach dem Motto: Erlaubt ist, was mir gefällt.
Also verstoßen nach neuester Lesart der Amerikaner die jüdischen Siedlungen im besetzten Westjordanland per se nicht mehr gegen internationales Recht [16].
Resümee
Die aktuellen Veröffentlichungen zeigen nur allzu deutlich, dass sich der Zentralrat der Juden in Deutschland unbedingt neu positionieren muss:
- Im Spiegel-Interview haben Sie auf die Frage, „wann ist Kritik an Israel antisemitisch, geantwortet: Sachliche Kritik an der israelischen Regierung ist genauso legitim wie Kritik an der deutschen Regierung. Es gibt den 3-D-Test: Wird Israel dämonisiert, delegitimiert oder werden doppelte Standards angelegt, ist die Grenze zum Antisemitismus überschritten. Da wird dann Israel gesagt, aber gemeint sind Juden [17].
- Auf die Frage, ob Sie Kritik an der israelischen Siedlungspolitik als antisemitisch bewerten, haben Sie geantwortet: Den Siedlungsbau in Israel zu kritisieren ist prinzipiell legitim, solange nicht auf antisemitische Ressentiments zurückgegriffen wird. Ich passe bei solchen Zuordnungen sehr auf. Ich bin auch nicht der Vertreter der israelischen Botschaft [17].
- Jerusalem Post und Bild hatten berichtet, der frühere außenpolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel sei vom Simon-Wiesenthal-Zentrum auf Platz sieben der „zehn schlimmsten Fälle von antisemitischem Verhalten“ dieses Jahr gesetzt worden. Als Begründung wurde unter anderem das Abstimmungsverhalten bei gegen Israel gerichteten Resolutionen angeführt [18].
- Die Bundesregierung verteidigt den deutschen UN-Botschafter Christoph Heusgen vehement gegen Antisemitismus-Vorwürfe. Abstimmungen erfolgten ausschließlich auf Weisung aus Berlin, betonte der Sprecher. Heusgen sei „ein hervorragender Diplomat, der der Sicherheit und historischen Verbundenheit zu Israel genauso verpflichtet ist wie die Bundesrepublik Deutschland“. Deutschland setzte sich bei den UN gegen eine unfaire Behandlung Israels ein, vertrete aber auch die Zwei-Staaten-Lösung [18].
Sehr geehrter Herr Schuster, der Zentralrat der Juden in Deutschland sollte – unbedingt –differenzieren zwischen Antisemitismus und Kritik an Israel, weil sonst der wachsende Antisemitismus in Deutschland, ausgehend von der israelischen Politik, den tatsächlichen Antisemitismus verharmlost [7].
Danke im Voraus für Ihre Antwort, die mit diesem Offenen Brief unter www.widersprueche.eu publiziert wird.
Mit besten Grüßen nach Berlin
R. Zander, Mainz (78, parteilos)
- Grußwort des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, beim Israel-Tag der Jüdischen Woche Leipzig, 05.07.2015
(Homepage des Zentralrats der Juden in Deutschland, eingesehen am 25.10.2019) - Allgemeine Zeitung Mainz 19.06.2002
- Facebook 17.08.2019: JT
- Süddeutsche Zeitung 24.10.2019
- Süddeutsche Zeitung 07./08.12.2019
- Süddeutsche Zeitung 21.11.2019
- Süddeutsche Zeitung 14.11.2019
- Brief an den Herrn Bundespräsidenten Steinmeier vom 13.12.2017 (R. Zander)
- Süddeutsche Zeitung 13.12.2017
- Süddeutsche Zeitung 17.03.2016
- Zeit online18.05.2017
- Frankfurter Allgemeine (FAZ) 26.06.2018
- Süddeutsche Zeitung 07.11.2019
- Tagesschau 18.11.2019
- Der Tagespiegel 19.11.2019
- Süddeutsche Zeitung 20.11.2019
- Der Spiegel 14.12.2019
- Süddeutsche Zeitung 14./15.12.2019